Baubo begegnen – sich selbst begegnen
Laura Baginskis Vulviva als Figur weiblicher Selbsterfahrung
von Monika Gsell
Auch wenn Baubo, jene Göttin der griechischen Mythologie, welche die um ihre Tochter trauernde Demeter durch die Entblössung ihres Geschlechts tröstet, im kulturellen Gedächtnis des Abendlandes sozusagen zum Synonym geworden ist für eben diese Geste, so ist noch lange nicht jede Darstellung einer ihre Vulva entblössenden weiblichen Figur eine Baubo.
Was also ist eine Baubo – und was berechtigt uns dazu, Laura Baginskis Vulviva als zeitgenössische Verkörperung eben jener grossen, mythischen Figur der Baubo zu verstehen?
Was die „Essenz“ des Baubo-Mythos ausmacht, ist, dass es in dieser Erzählung um eine Begegnung geht. Auf der manifesten Ebene handelt es sich um die Begegnung zweier Frauen. Auf einer tieferen Ebene aber geht es um eine Begegnung mit sich selbst – denn Demeter und Baubo sind genau genommen lediglich zwei unterschiedliche Namen für dieselbe archaische Muttergottheit. Wenn wir auf eine noch etwas tiefere Ebene gehen, können wir sagen: Es geht um eine Begegnung mit dem eigenen, nämlich weiblichen Geschlecht. Und wenn wir die Art dieser Begegnung und deren Verlauf noch etwas genauer charakterisieren wollen, sehen wir: Es geht um eine konflikthafte Begegnung mit dem eigenen Geschlecht, aus der das weibliche Subjekt verändert, nämlich getröstet und gestärkt hervorgeht.
Mythen, so die Psychoanalytikerin Judith Le Soldat, werden nur deshalb über Jahrhunderte hinweg tradiert und immer wieder von neuem zum Leben erweckt, weil sie „ein tiefes Geheimnis der Menschen anpacken, ein akutes und ungelöstes Problem in ihrem Innern berühren“ – etwas, was wir selbst, alle auf je eigene Art, durchgemacht haben, ohne dass wir dazu einen bewussten Zugang hätten.
Um verständlich zu machen, worin das ungelöste Problem besteht, das der Baubo-Mythos gestaltet, müssen wir einen Umweg machen: Denn der Mythos selbst behandelt das Problem auf so hoch verdichtete Art und Weise, dass wir sehr viel analytischen Aufwand betreiben müssten, um seinen psychischen Kern freizulegen. Einen etwas einfacheren Zugang bietet uns eine Erzählung, in der es ebenfalls um die konflikthafte Begegnung einer weiblichen Figur mit ihrem Geschlecht geht. Es handelt sich bei dieser Erzählung sozusagen um eine spätmittelalterliche, volkstümliche Variante des Baubo-Mythos. Überliefert ist sie uns in einer Handschrift aus dem 14. Jahrhundert unter dem Titel Der Rosendorn. Der Rosendorn erzählt die Geschichte einer jungen Frau, deren Genitale eines Tages zu sprechen beginnt. Es beklagt sich bitterlich darüber, dass es seit Jahr und Tag vernachlässigt werde, obwohl sie, die Herrin, doch nur seinetwegen von den Männern begehrt werde. Die junge Frau blickt verwundert an sich hinab und erschrickt zutiefst über das, was sie dort am eigenen Leib entdeckt: Nein, das konnte unmöglich sein, dass so ein hässliches, schwarzes, haariges Ding der Grund für die Verehrung der Männer war – „viel eher müsste ich mich schämen, würde man dich sehen“. Das kleine, zottelige Ding versucht sich treuherzig zu verteidigen: Es lobt die makellos hellrosa schimmernde Haut seiner Herrin, meint aber, dass sein brauner Pelz ihm auch nicht schlecht stehe: „Denn jedes Ding soll man nach der Farbe loben, die zu ihm passt“. Davon will die Schöne aber gar nichts wissen, und nachdem ihr Genitale noch einmal frech seinen Anteil an Ehre und Anerkennung fordert, wird es von der Herrin zum Teufel gejagt: „Geh weg, Du verfluchtes schwarzes Ungeheuer, stachelig wie ein Meermonster. Du pist gruilich geschaffen.“ Unter Tränen trennt sich das Genitale von seiner Herrin und versucht sein Glück bei den Männern alleine. Doch wo immer man es erblickt, hält man es für eine Kröte und tritt es mit Füssen. Der Herrin aber ergeht es nicht viel besser: Kaum hatte sich herumgesprochen, dass ihr das Ding zwischen den Beinen fehlt, wurde sie als die Fudlose verlacht. Man begann, den Blick von ihr abzuwenden und tat bald, als ob man sie gar nicht mehr sähe. Beide sind zutiefst unglücklich und wünschen sich nichts sehnlicher, als einander wieder zu finden. Als sie sich tatsächlich nach einem Jahr just an der Stelle, an der sie sich getrennt hatten, wieder begegnen, sind sie überglücklich und beschliessen, einander nie mehr zu verlassen.
Inwiefern hilft uns diese Geschichte nun zu verstehen, um welchen psychischen Konflikt es im Baubo-Mythos geht? Die junge Frau im Rosendorn ist offensichtlich noch nicht reif für die sexuellen Ansprüche, die das Genitale an sie richtet: Sie will von den Männern nur verehrt werden, will narzisstische Zufuhr, keine triebhafte Sexualität. Deshalb erscheint ihr das aufbegehrende, fordernde Genitale als abgrundtief hässliches Monster. Psychoanalytisch gesprochen handelt es sich bei dieser verzerrten Selbstwahrnehmung um das Resultat einer Gegenbesetzung der libidinösen Triebansprüche durch narzisstische Kräfte: Das Genitale soll schön sein, nicht genussvolle Sexualität ermöglichen. Der Kampf zwischen diesen beiden Antagonisten, Libido und Narzissmus, treibt die psychische Entwicklung voran. Entwicklungsziel ist eine komplexere Ich-Struktur, welche schliesslich auch die sexuelle Funktion des Genitales zu integrieren vermag. Indem die junge Frau im Rosendorn sich von ihrem Genitale trennt, weist sie die innerlich drängenden sexuellen Ansprüche zurück und verschafft sich so den für den psychischen Reifeprozess benötigten Aufschub.
Ich erzähle diese Geschichte hier aber nicht nur deshalb, weil sie ein eindrückliches Zeugnis dafür ist, dass Aneignung und Integration von Geschlecht eine universelle, von jedem Individuum von neuem zu bewältigende Entwicklungsaufgabe ist, die manchmal besser, manchmal weniger gut gelingt. Ich erzähle sie auch nicht nur deshalb, weil in dieser Geschichte die schwierigen Gefühle, die mit diesem Entwicklungsprozess einhergehen – die Scham, der Ekel, die Ablehnung, der Schmerz, die Trauer – psychologisch erstaunlich präzis dargestellt werden. Ich erzähle sie vor allem deshalb, weil ich immer wieder die Erfahrung gemacht habe, dass diese Geschichte auch heute noch eine ganz besondere Wirkung zu entfalten vermag: Wann und wo auch immer ich sie erzählte, stets entpuppte sich der Rosendorn als eine Geschichte, die meine Zuhörerinnen ganz offensichtlich berührte, sie in Kontakt mit eigenen, schwierigen Gefühlen brachte, und vor allem: sie damit nicht alleine liess, sich nicht damit begnügte, diese schwierigen Gefühle darzustellen und ins Bewusstsein zu heben, sondern diese als Ausgangspunkt eines Prozesses darstellte, in dessen Verlauf eine Entwicklung stattfindet und der Konflikt überwunden wird. Gerade dieses letzte Moment – die glückliche Wiedervereinigung der Frau mit ihrem Geschlecht – schien mir ganz entscheidend wichtig dafür, dass die Geschichte auch bei meinen Zuhörerinnen einen Prozess in Gang zu setzen vermochte und eine transformative Kraft entfaltete.
Genau das ist der psychische Kern des Baubo-Mythos: Demeter begegnet in der Figur der Baubo ihrem eigenen, „verlorenen“, weil abgewiesenen Geschlecht. Was genau sichtbar wurde, als Baubo ihr Geschlecht Demeter gegenüber entblösste, ist unklar. Der Mythos enthält hier eine Leerstelle, die in den unterschiedlichen Überlieferungen, Rezeptionen und Aktualisierungen des Stoffes unterschiedlich gefüllt wird, je nach der individuellen Phantasie und Gefühlslage derjenigen, die den Stoff bearbeiten oder rezipieren. Immer aber vermag die Geste der Baubo einen Prozess in Gang zu setzen, in dessen Verlauf eine Transformation stattfindet und Konflikthaftes bearbeitet und bewältigt werden kann: Demeter lacht und akzeptiert Baubos „Angebot“, d.h. ihr eigenes Geschlecht.
Ich glaube, es ist insbesondere dieses szenische Element, das auch Laura Baginskis Vulviva die Qualität einer Baubo verleiht: Dass wir dieser Figur begegnen, wenn wir vor ihr stehen; dass wir mit ihrem, und das heisst auch: mit unserem je eigenen Geschlecht konfrontiert werden; dass sich dann so etwas wie ein innerer Dialog einstellt, wenn wir uns auf sie einlassen, ein stream of consciousness einsetzt, im Verlaufe dessen wir genau mit diesen ambivalenten Gefühlen in Kontakt kommen, die sich im Verlaufe unserer psychischen Entwicklung auf unsere Vulva gelegt haben wie eine Textur, die den Zugang zu und die Anerkennung und Integration unseres Geschlechts in unser Körperbild erschwert oder blockiert hat: die Scham, der Ekel, die Bilder des Hässlich-Monströsen … Wenn es uns jetzt gelingt, diese Gefühle und Bilder als die eigenen zu erkennen, als etwas, was unvermeidlicher Bestandteil unserer eigenen, inneren Geschichte ist, und wir dann plötzlich Trauer empfinden darüber, dass unser Geschlecht so verstellt ist durch die eigenen Bilder und Gefühle, dann wird tief in uns drin etwas in Bewegung geraten und zum Leben erweckt, so dass wir es, wenn wir die Augen schliessen, wahrnehmen und empfinden können. Wir haben dann die Verbindung zwischen dem äusseren und dem inneren Geschlecht hergestellt. Wenn wir dann nach einer Weile die Augen wieder öffnen und unser Blick auf die ganz und gar realistisch gebildete Vulva von Laura Baginskis zeitgenössischer Baubo fällt, dann werden wir unsere verzerrenden und verstellenden Phantasien durchschritten haben und beim Körper angelangt sein, den wir jetzt so anerkennen können, wie er ist.
Diese Begegnung mit unserem eigenen, äusseren sowie inneren Geschlecht, das Gewahrwerden der damit verbundenen ambivalenten und konflikthaften Gefühle, das Durchschreiten der verzerrenden Körperphantasien, und schliesslich die Ankunft beim realen Körper – das ist die psychische Bedeutung von Baubo, und das ist das Potential von Baginskis Schöpfung, die deswegen auch ganz zurecht Vulviva heisst, weil sie die unterbrochene Verbindung zu unserem Geschlecht wiederherstellt und es auf diese Weise belebt. Auch wenn wir nicht ganz verstehen, was das ist, was uns beunruhigt, so erfahren wir in dieser Berührung doch eine Verwandlung, es passiert etwas, es findet ein Prozess statt, aus dem wir gestärkt, getröstet, beruhigt und beglückt hervorgehen.
Monika Gsell, Psychoanalytikerin und Autorin von Die Bedeutung der Baubo. Kulturgeschichtliche Studien zur Repräsentation des weiblichen Genitales (2001).